‚Yad‘ (Hebräisch: Hand), ein Zeigestock zum Lesen der Thora in der Synagoge /  Geschenk von Detlef Wurst / Ursprung: Polen

Vom 2. bis 16. Oktober 2022 dreht ein Filmteam den deutschen Teil meiner Geschichte. Dabei werden wir jeden Tag aufs Neue überrascht von unerwarteten Begegnungen mit Menschen und Orten.

Während ich meine Erinnerungen aus diesen zwei Wochen durchstöbere, indem ich auf der Suche nach Themen unsere Fotos anschaue, halte ich inne und denke über die 3 Synagogen nach, die in meinen frühen Jahren in Deutschland eine Rolle gespielt haben.

Guldental, früher Heddesheim

Meine Mutter, Amalie Schneider, war in Heddesheim zu Hause. Mein Großvater, August Schneider, ein Weinhändler, war als Vorsitzender der kleinen Synagoge im September 1910 dabei, als die neu erbaute Synagoge geweiht wurde.

28 Jahre später, in der ‚Kristallnacht‘ vom 9. auf den 10. November 1938 wurde das Innere der Synagoge zerstört und geplündert und die kleine jüdische Gemeinschaft vertrieben.

Am 4. Oktober 2022 ist die Tür unverschlossen und wir werden in der Synagoge von Bürgern des Ortes herzlich empfangen. Sie haben die Herausforderung auf sich genommen, das bescheidene Gebäude, das übrig geblieben ist, in eine Gedenkstätte zu verwandeln.

Guldentals Synagoge heute,   Foto: Wandaline Joassin

Von der Decke herabgestürzte Verzierung mit einer weißen Rose von Sabine. Die Geschichten unserer beiden Familien sind miteinander verflochten

Die Gruppe zur Instandsetzung der Synagoge hat eine öffentliche Lesung von ‚Meine Krone in der Asche‘ arrangiert und mich gebeten, über die Verbindung meiner Familie zu Guldental zu sprechen.

Wie soll ich meine Lesung beenden? Unsere ausgedehnte Fragezeit hat offen gelegt, wie tief das Publikum in die Geschichte meiner Familie, die Geschichte ihrer Gemeinschaft, die Geschichte ihres Landes hinein gekommen ist.

In mir kommt der Wunsch auf mit Worten aus der Thora zu schließen:

Der Herr segne dich und behüte dich! Der Herr lasse sein Angesicht über dir leuchten und sei dir gnädig! Der Herr erhebe sein Angesicht auf dich und gebe dir Frieden!

4.Mose 6, 24-26

Artikel über die Lesung in der Bad Kreuznacher Zeitung

Als wir mit den Menschen aus dem Publikum hinterher in Kontakt kommen, lerne ich einen Bundestagsabgeordneten kennen, der hier in der Region geboren ist und die Veranstaltung zusammen mit einem Kollegen aus der Oppositionspartei besucht hat.

Wir entdecken unseren gemeinsamen Wunsch, dass die Vergangenheit geheilt wird.

Und dann kommt ein 11jähriger Junge mit seiner Mutter auf mich zu mit der Frage: „Was würden Sie meiner Generation sagen?“

Sicherlich machen wir in dem Moment die Erfahrung, dass das alte Gebet erhört wird.

Gemünd/Schleiden

Das ist die Synagoge, an die ich mich am besten erinnere.

Von 1932 – 1938 war Gemünd meine Heimat und so erinnere ich mich lebhaft daran, wie ich neben meinem Vater in der ersten Reihe der Synagoge saß und beobachtete, wie der ‚Yad‘, der Zeigestock, sich langsam von links nach rechts entlang der Thora Rolle bewegte.

Und doch ist die Synagoge von Gemünd diejenige, die fast vollständig verschwunden ist. Nach der ‚Kristallnacht‘ war nur noch ein Haufen schwelender Schutt übrig geblieben.

Heute befindet sich eine kleine, unscheinbare Werkstatt in der aufgeräumten, leeren Lücke in der Mühlengasse. Wenn man die zerbröckelnden, alten Stufen gleich neben der Werkstatt hoch steigt, sich umdreht und aufmerksam durch das Unkraut hinter dem Gebäude schaut, kann man immer noch die Schicht abgenutzter Steine sehen, die einmal das Fundament unserer Synagoge waren.

In den vergangenen Jahren wurde in ganz Deutschland bei feierlichen Zeremonien und Gedenkveranstaltungen an die ‚Kristallnacht‘ erinnert.

Am 9. November 2014 waren wir zu solch einer Zeremonie in Gemünd.

An jenem nass kalten Abend liest der Bürgermeister Udo Meister, im Lichtschein des Handys seiner Frau, aus einem Dokument vor, das die dunkle Geschichte der Synagoge von Gemünd und den Umgang der Öffentlichkeit damit beschreibt.

Er entfernt ein rotes Tuch und eine Gedenktafel, welche die ehemaligen jüdischen Mitbürger in Worten und Bildern ehrt, wird enthüllt. Die Tafel wird von zwei Metallstangen gehalten und steht markant am Anfang der Mühlengasse an einer verkehrsreichen Kreuzung.

Die Stolpersteine

Der Bürgermeister

Sieben Jahre später, im Juli 2021 wurde Gemünd so wie viele Orte in der Eifel von einer katastrophalen Flut überschwemmt. Gemünd liegt an der Einmündung zweier Flüsse und viele Häuser, Geschäfte und Menschen wurden mitgerissen.

Bei unserer Ankunft für die Filmaufnahmen im Oktober 2022 ist schon viel Schutt und Geröll weggeräumt, aber im Stadtzentrum sind weiterhin viele Geschäfte, Restaurants und Wohnungen entkernt und geschlossen. Einige von den Anwohnern, die wir treffen, stehen immer noch unter Schock.

Ich stehe an der Kreuzung. Wo ist die Gedenktafel für die Synagoge? Ich schaue auf die beiden Metallstangen, welche die Gedenktafel eingefasst hatten. Jetzt stehen sie dort fest, aufrecht und leer. Die Gedenktafel ist verschwunden, weggerissen von den wilden, vorwärtsstürzenden Wassermassen.

Das ist das jüngste Kapitel in der turbulenten Geschichte der Eifel und von Gemünd …

Synagoge Roonstraße, Köln im Oktober 2022

Köln

An den riesigen Schutthaufen, der sich auf der anderen Straßenseite gegenüber der Wohnung auftürmte, wo ich mit meinen Eltern von Dezember 1938 bis Juli 1939  gelebt habe, kann ich mich nicht mehr erinnern.

Bis zur Kristallnacht vom 9. zum 10. November 1938 waren diese zerbrochenen Steine die imposante Roonstraßen-Synagoge.

Bei der Rückkehr für die Filmaufnahmen im Oktober 2022 wende ich mich ab von dem profanen, grünen Wohnhaus, das einst ein elegantes Gebäude war, in dem meine Familie Zuflucht gesucht hatte. Jenseits einer baumbestandenen Insel schaue ich auf die wiederhergestellte Synagoge, die den heutigen Rathenauplatz dominiert.

Plötzlich realisiere ich, dass unsere kleine Familie 1939 jedes Mal, wenn sie aus dem Haus trat, mit der Auswirkung des kurz zuvor erfolgten brutalen Angriffs auf das Symbol unserer Identität konfrontiert worden sein muss. Hat Furcht alle visuellen Erinnerungen an diesen eindrucksvollen Anblick verdrängt?

Wir drehen Filmaufnahmen mit Julian, dessen Vater, so wie ich, mit dem Kindertransport geflüchtet ist. Seine Großeltern und meine Eltern waren im selben Deportationszug, der alle vier in den Tod nach Polen gebracht hat. Wir entdecken, dass unsere Familien auf gegenüberliegenden Straßenseiten gelebt haben.

Zusammen mit dem Filmteam betreten Julian und ich die Synagoge. In dem engen Eingangsbereich stehen wir dicht beieinander, während unsere Papiere sorgfältig mit den Informationen verglichen werden, die wir zuvor angegeben hatten. Die Ausrüstung wird ausgepackt und durchleuchtet. Die Bedrohung ist real und Vorsicht ist berechtigt.

In einer seltsamen Gegenüberstellung der Geschichte wird Julian gefilmt, während er in einem ruhigen Raum der Synagoge nochmals die Geschichte seiner Familie erzählt.

Julian, Victoria, George und ich essen gemeinsam mit drei Holocaust Historikern eine koschere Mittagsmahlzeit im leeren Restaurant der Synagoge.

Rathenauplatz, Köln / Julian und ich: Zum ersten Mal treffen wir uns persönlich

Ein koscheres Mittagessen

Wie mag das sein, wenn man sich heute als Mitglied der wachsenden orthodoxen Glaubensgemeinschaft unter Vorsichtsmaßnahmen in der einzigen Kölner Synagoge trifft, welche die Schoah überlebt hat?

Drei Synagogen, Geschichten aus der Vergangenheit,

Ereignisse der Gegenwart und eine unbekannte Zukunft …