Foto von Wandaline Joassin

Gemünd in der Eifel nach der Flut

Dieter schaut aus dem Fenster im oberen Stockwerk und sieht uns bei den Stolpersteinen vor dem Nachbarhaus.

Wir filmen gerade.

Er kommt herunter zu uns und übergibt George und mir einen Briefumschlag mit den Worten: „Vor 4 Wochen habe ich Maria verloren, sie ist gegangen“. Wie betäubt spricht er von ihren Schmerzen, dem plötzlichen Verlust von all dem, was vertraut und geliebt war … von der Flut.

Amy Williams sieht zum ersten Mal die Stolpersteine, Foto: Ryan Thurman

Der Briefumschlag, Foto: Ryan Thurman

Er nimmt uns mit nach hinten zum Apfelbaum.

Auf dem Weg dorthin hören wir das Hämmern der Handwerker, plärrende Radiomusik aus den offenen, leeren Räumen im Erdgeschoss.

Leer

Der Apfelbaum, der den Zweiten Weltkrieg überlebt hat, steht jetzt zwischen all dem Schutt, der vormals der Kurort Gemünd gewesen ist.

Es ist derselbe Apfelbaum, der über Jahre geblüht hat und seine Blätter, Blüten und Früchte in den Garten hinter dem Nachbarhaus hat fallen lassen, das das Zuhause meiner Familie war, bevor Gemünd  judenfrei wurde.

Seit dem 2. September 1945 ist Gemünd dabei, sich irgendwie mit dem Erinnern und dem Wiederherstellen zu beschäftigen.

Heute ist Erntezeit. Große, reife Äpfel ziehen die Äste nach unten und liegen aufgehäuft auf dem Boden unter dem Baum.

Ungeerntet

Voller Trauer sagt Dieter: „Wir können die Äpfel in diesem Jahr nicht essen, weil der Boden vergiftet ist von dem kontaminierten Flutwasser, das Gemünd im Juli 2021 verwüstet hat.“

Seit Jahren haben Maria und Dieter viele Liter Apfelsaft gemacht und auch uns großzügig davon probieren lassen.

Dieses Jahr keine Maria.

Dieter steht immer noch unter Schock.

Als wir uns verabschieden, sagt er: „ Ich habe keine Fotos von Maria, sie sind alle fortgeschwemmt worden, habt ihr welche?“

Während ich am nächsten Tag durch meine Fotogalerien scrolle, finde ich so viele Erinnerungen, Erinnerungen voller Freude seit 1992.

Maria und Dieter 2012

Ich klicke auf ‚senden‘.

Und dann erinnere ich mich, dass ich beim Verlassen von Deutschland im Juli 1939 kein einziges Foto von meinen Eltern hatte …

Erst Jahre später bekomme ich ein Schwarz-Weiß-Foto von Gisela, das meine Mutter und mich in unserem Garten zeigt. Meine Mutter hatte dieses Foto von uns beiden an Giselas Eltern in Israel geschickt. Es ist die einzige Fotografie von meiner Mutter, die ich anfassen und festhalten kann.

Aus dem Stadtarchiv von Gemünd ist das einzige Foto, das ich von meinem Vater habe; er steht in einer Reihe des Schützenvereins.

Ich denke nach über die Bedeutung von Fotos bei der Trauer um unsere Lieben – und über die großherzige Empathie von Freunden.

Meine Mutti und ich

Mein Vati steht ganz rechts