Gemünd, Eifel (Luftkurort)
Wir gingen von der Synagoge nach Hause, mein Vater und ich, die Mühlengasse entlang, über die Brücke und weiter zur Dreiborner Straße.
Wir stiegen die Stufen zu unserer Haustür hinauf und atmeten den Geruch von Gewürzen und Apfelkuchen ein.
Ich hielt den Frieden und die Wärme bei uns, bei unserer kleinen 3er Familie, die in der Vertraulichkeit unseres gemütlichen Zuhauses lebte, für selbstverständlich.
Dreiborner Straße 1936 | Vorab Entwurf der Textil-Künstlerin Laura Nathan für den Dokumentarfilm #8814
Ich war völlig unwissend über die Aktivitäten in den Hügeln oberhalb von Gemünd, unserer Heimatstadt, nahe der belgischen Grenze. Haben meine Eltern oder enge Freunde irgendetwas geahnt?
Wieviel haben unsere Nachbarn gewusst?
Sicherlich haben sie den ständigen Transport von Material durch unsere Straßen hinterfragt. Wie haben sie es geschafft, Neugier, Besorgnis und Furcht zu unterdrücken?
Am 24. April 1936, als ich 4 Jahre alt war, wurde nach fieberhafter Bautätigkeit die ‚Ordensburg Vogelsang‘ offiziell an Adolf Hitler übergeben und 500 NS-Junker (Offiziersanwärter) aus ganz Deutschland zogen dort ein. Der Schwerpunkt wurde auf Nazi-Rassentheorie, Geopolitik und Sport gelegt. [Quelle: Wikipedia]
Das ereignete sich in den Hügeln oberhalb unserer kleinen Heimatstadt
Die Ordensburg Vogelsang war eine von drei Burgen, die gebaut wurden, um zukünftige Führungskräfte für das 1000jährige Reich zu trainieren.
Die anderen beiden? Ordensburg Krössinsee in Pommern (heute Polen) und Ordensburg Sonthofen im Allgäu.
Vogelsang ist als einzige vollständig erhalten. Wikipedia zufolge ist die Burg eines der größten architektonischen Relikte Nazi-Deutschlands.
Am 20. August 2024 hat David Peters, der Regisseur unseres Dokumentarfilms #8814, diese Kopien von echten, alten Aufnahmen der Burg Vogelsang geschickt.
Ich schaute auf die Bilder, welche die versteckte Vergangenheit aufdecken und dachte nach über Macht, Autoritarismus, Spektakel, Propaganda, Irreführung, das Böse; und ich dachte an unsere gefährlichen Reaktionen in den 1930ern, unsere Unwissenheit, Widerruf, Angst, Fügsamkeit … .
Während einer meiner Besuche, bei denen ich nach Gemünd zurückkehrte, gab mir eine Freundin, Hanna Wachtel, die Eigentümerin der Buchhandlung in der Dreiborner Straße, vor Jahren einen Bildband.
‚Das historische Gemünd‘ von Markus Herbrand.
Heute blättere ich die Seiten um und schaue auf ein Foto vom Kino, das im Mai 1945 nach den Bombardierungen und nach Kriegsende aufgenommen wurde.
Der Fotograf schrieb auf die Rückseite ‚Durchgehend geöffnet‘.
Ironischerweise ist dies genau das kleine Kino, das Ruth und mich mit dem Schild ‚Für Juden verboten‘ abgewiesen hat, als wir voller eifriger Erwartung damit rechneten, ‚Schneewittchen und die sieben Zwerge‘ zu sehen.
Das Kino, Gemünd, Mai 1945
Ich schaudere beim Kontrast zwischen der brutalen Architektur, Selbstüberhebung, der eitlen Pracht, die auf den Hügeln von Gemünd in den 1930ern zur Schau gestellt wurde und der Verwüstung unserer malerischen kleinen Stadt 1945.
Meine Kindheitserfahrungen machen mich misstrauisch gegenüber Spektakeln, bösartigen Reden, falschen Versprechungen und …
Ich erinnere mich an die Bilder und Gleichnisse, die Geschichten, von denen unser Messias so eindringlich und wortgewandt gesprochen hat.
Seine warnenden Worte hallen heute nach.
Wachet und betet!