Ich war Nummer 8814
Es ist tatsächlich passiert.
Manchmal, während ich eine Dokumentation über die Geschichte der Antike anschaue, sehe ich einen Archäologen, der auf staubigem Boden in einer öden Landschaft kniend eifrig und geduldig mit einer kleinen Kelle Steine abkratzt und behutsam die Erde abbürstet. Ich bin fasziniert von der Spannung.
Ich verweile mit der Kamera in Erwartung des dramatischen Moments, wenn ein handfestes Objekt aus der Vergangenheit enthüllt wird. Ich kann mich mit der Begeisterung über die Entdeckung identifizieren, die auf Stunden … Tage … Jahre der geduldigen Suche folgt.
Diese Woche bin ich in die Ergriffenheit durch solch einen Moment empor gehoben worden.
Dr. Amy Williams, eine Expertin für den ‚Kindertransport‘, ist trotz der Kriegszeit als Gastwissenschaftlerin in Jerusalem in Yad Vashem.

Amy vor der Gedenkstätte für die Kinder in Yad Vashem, Jerusalem
Ich war Teil des Kindertransports, dieser monumentalen Rettungsaktion für ungefähr 10.000 jüdische Kinder aus Deutschland, Österreich, der Tschechoslowakei und Polen, die zwischen Dezember 1938 und dem Ausbruch des Zweiten Weltkriegs im September 1939 in Großbritannien aufgenommen wurden. (Mit Einschränkungen wurde die Rettungsaktion bis 1940 weitergeführt www.britannica.com)
Man könnte Amy als eine Archäologin für den Kindertransport beschreiben. Ihre neueste sorgfältige Durchsicht im Staub der Vergangenheit brachte ‚Artefakte‘ ans Licht, die viele Jahre lang verborgen waren.
In den Archiven von Yad Vashem hat sie die kompletten Listen von uns allen Kindern gefunden, die aus Deutschland entkommen und auf unserem Fluchtweg ins Vereinigte Königreich durch Holland gekommen sind.

Das bin ich Nummer 8814 – die letzte auf der Liste
(Die Namen sind verdeckt, während wir auf die Genehmigung für die Veröffentlichung warten).
Ich wurde am 18.2.1932 in Bonn geboren und mein Zielort war London. Wie einige andere Kinder auf der Liste hatte ich keinen Sponsor.
Aber die Geschichte entfaltet sich immer noch weiter. Fachkundig nutzt Amy alle Werkzeuge, die heutzutage zur Verfügung stehen, und bringt ihre Entdeckungen ins Leben, indem sie Überlebende des Kindertransports, deren Kinder und Enkelkinder in Verbindung bringt!
Seht nochmals auf die Liste und schaut die Nummer 8795 gleich über meiner Nummer 8814 an.
Gestern hat mich Amy eingeladen, gemeinsam mit ihr und Bill Niven zwei der Söhne von Nummer 8795 zu treffen. Wir haben unsere Geschichten miteinander auf Zoom geteilt.

Einreisedokument für Doris Aronowitz | Kindertransport Nummer 8795

Einreisedokument für Johanna Flora Zack, das Foto wurde entfernt, aber das bin ich

Rückseite des Einreisedokuments. Doris und ich kamen am selben Tag, dem 26.Juli 1939 in Harwich an
Während Chris und Richard bruchstückhafte Informationen und ihren Bestand an Fotos teilen, wird meine Mitreisende, Doris Aronowitz, ganz allmählich für mich real.

Doris 1938

Leider ist sie 1992 verstorben
Ich halte mich an jedem einzelnen Wort fest, das Chris und Richard über ihre Mutter teilen. Da gibt es so viele unbeantwortete Fragen.
Doris ist nicht mehr hier. Ich kann sie nicht fragen, wie es für sie war, ihre Mutter zu verlassen. Hatte sie Angst, als der Zug sie von allem weggebrachte, was sicher und vertraut gewesen war? Hat sie in England irgendjemanden gefunden, der sie verstanden hat, der sich wirklich um sie gekümmert hat?
Und ich kehre zurück zu meiner eigenen Abreise … der Zug, die Fremdartigkeit in England, die Einsamkeit in diesen frühen Tagen.
Amy fragte mich, wie ich mich am Ende unseres Gesprächs mit Chris und Richard gefühlt habe. Jetzt, nachdem ich 24 Stunden darüber nachgedacht habe, kommt mir das hebräische Wort chesed in den Sinn.
Chesed oder Hesed bedeutet Güte oder Liebenswürdigkeit unter Menschen.
Amys Frage führt mich zum Buch der Psalmen und ich sitze beruhigt von der Quelle liebevoller Güte.

Mein Ausweis Foto