‚Das Verlassen‘  von Laura Nathan, Textilkünstlerin

Wir reagieren auf Ereignisse aufgrund des Filters unserer Lebenserfahrungen und unserer Wahrnehmung der Realität

Vor mehr als einem Jahr, am 7. Oktober 2023, wurden Juden in Israel getötet, gefoltert und als Geiseln genommen – Männer, Frauen, Junge, Alte, Kinder, mehr als jemals zuvor seit dem Holocaust.

Seitdem wird Israel von der Hamas im Gaza-Streifen, der Hisbollah in Syrien, im Libanon und im Irak, den Huthis im Jemen und vom Iran eingekreist, die mit Drohnen und Raketen Tod über 21.671 Quadratkilometer regnen lassen. Das ist Israel.

In seiner Antwort hat Israel mit Zerstörung bei den Palästinensern gearbeitet; und bei dem Versuch, die Hamas in ihren Tunnels aufzustöbern und jetzt im Libanon die Führung der Hisbollah zu dezimieren, brachte Israel Zivilisten zu Tode.

Wir trauern um die Toten, wir halten den Atem an. Was wird als nächstes mit dem Iran passieren? Was ist mit der nuklearen Option?

Hier in Phoenix beobachte ich das endlose Leid und den Horror, grüble über das anscheinend unlösbare Problem…

Am Tag vor dem Gedenktag zum 7. Oktober 2023 landete unsere gute Freundin Amy Williams in Tel Aviv, um ihren Aufenthalt zum Studium der jüdischen Geschichte in Yad Vashem zu beginnen.

Yad Vashem, Jerusalem | fotografiert von Amy Williams

Dort in Jerusalem hat sie bereits eine Kindertransport-Liste mit den Namen von 58 Kindern entdeckt, die am Montag, dem 24. Juli 1939 abends in Köln in den Zug gestiegen sind; darunter sieht sie meinen Namen.

Die Liste stammt aus einem niederländischen Archiv, denn die niederländische Regierung wollte wissen, welche Kinder auf ihrem Weg von Deutschland nach Großbritannien ihr Land passierten.

Ich schaue auf meinen Namen in der Liste.

48. Zack, Johanna   18. 2. 32  Bonn 8814   Hosp.   London

Wieder sehe ich meiner eigenen Vorgeschichte ins Gesicht: Meinen Eltern, meinen Tanten, nahen Freunden, unserer kleinen jüdischen Gemeinschaft, den Ereignissen, die zum Zweiten Weltkrieg geführt haben, der darauf folgenden Verwüstung und den Antworten der Welt auf das jüdische Problem.

Eine Email von Bernd landet in meinem Posteingang, er ist ein enger deutscher Freund. Er schreibt aus Berlin.

   … hier in Deutschland sind wir bestürzt darüber, dass der Antisemitismus auch in  unserem Land wieder zunimmt. Wir haben keine Ausflüchte … Ich hatte viel Kontakt zum Rabbi von … er und seine Freunde stehen mehr Feindschaft gegenüber als jemals zuvor …

Ich lese in einigen Kommentaren in der New York Times.

Wie der 7. Oktober die amerikanischen Juden verändert hat erzählt die Geschichte von dem Tag, als Abigail Fixel zu ihrem Zimmer im Studentenwohnheim im Bernard College in New York zurückkam und eine kleine palästinensische Flagge dort, wo eigentlich ihre Mesusa hätte sein sollen, an ihrem Türrahmen angeschlagen vorfand.

Mesusa an meiner eigenen Wand

Eine Mesusa enthält eine winzige handgeschriebene Schriftrolle, die mit den Worten beginnt:

Höre Israel: Der Herr ist unser Gott, der Herr allein! Und du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben mit deinem ganzen Herzen und mit deiner ganzen Seele und mit deiner ganzen Kraft.

aus 5.Mose 6, 4-5

Dann fand sie ihre Mesusa, ein Symbol jüdischen Glaubens, in ihrem Abfluss versenkt.

‚Das Jahr, in dem amerikanische Juden wach geworden sind‘ (Originaltitel: The Year American Jews Woke Up)

geschrieben von Bret Stephens, einem Nachkommen eines Holocaust Überlebenden, dessen Mutter nach dem 2. Weltkrieg in die USA kam.

Er erinnert an die Geschichte der Juden in Amerika und sucht nach Antworten auf die Zunahme des Antisemitismus’ heute.

Ein Satz springt direkt ins Auge.

Wenn man argumentiert, dass Bildung die Antwort auf religiöse Intoleranz

ist, wird häufig vergessen, dass religiöse Intoleranz ein moralisches und kein intellektuelles Versagen ist — und ein paar Menschen sind gefährlicher als

gebildete Fanatiker.

Das erinnert mich an die schmerzhafte, kritische Erwiderung eines britischen Historikers und Autors, der sich auf die moderne deutsche Geschichte spezialisiert hat, auf die gegenwärtige Zunahme des Antisemitismus weltweit. Er sagte: „Die Arbeit meines Lebens basiert auf der Grundlage, dass Bildung das Problem des Hasses löst…“

Heute, am Abend des Yom Kippur, dem Tag der Buße und Versöhnung, schaue ich auf mein eigenes Herz und bete mit den Worten des Psalmisten und Königs David

‚Erforsche mich, Gott, und erkenne mein Herz. Prüfe mich und erkenne meine Gedanken! Und sieh, ob ein Weg der Mühsal bei mir ist, und leite mich auf dem ewigen Weg!‘ 

Psalm 139

Holocaust Mahnmal Berlin | Fotograph: Thomas Cogdell