Shirley Temple | Bildquelle: Good Housekeeping/Bettman/Getty Images
Was geschah tatsächlich in jenem Sommer 1939 in Coventry?
Die Vergangenheit durchsieben, Punkte verbinden, auf der Suche nach Substanz zwischen dem Schemenhaften, die Erinnerungen zweier Kinder an dieselben Erlebnisse vergleichen, schmerzliche Erinnerungen aufwühlen.
Während ich alte Fotos und Papiere durchsehe, lese ich sorgfältig die handgeschriebenen Briefe, die mir im Jahr 2012 von Rod Calcott aus Coventry, England, geschickt worden sind. Angestrengt schaue ich auf die unscharfen Fotos und versuche, unsere beiden Geschichten zu vergleichen.
Nach Jahren des vor mir her Schiebens begann ich etwa 2008 mit dem Schreiben meiner Memoiren, A Garland for Ashes (die deutschsprachige Fassung, Meine Krone in der Asche, ist 2014 erschienen )
Die Suche danach, was wirklich passiert ist, war eine riesige Herausforderung.
Keine nahen Verwandten hatten den Holocaust überlebt, und
die beiden englischen Familien, die das ‚Flüchtlingskind‘ aufgenommen hatten, waren Jahre zuvor gestorben.
Dann erinnerte ich mich an den Namen des kleinen Sohns, der mich in der ersten Familie begrüßt hatte. Ich fing an, das Internet nach Roddy Calcott zu durchsuchen.
Dass wir uns nach so vielen Jahren des Schweigens gefunden haben, fühlte sich wie ein Wunder an.
Er war immer noch der freundliche Junge voller Hoffnung, an den ich mich erinnerte.
Wir telefonierten, er schickte Briefe und Fotos, welche die vergänglichen Sommertage damals 1939, als wir Kinder waren, beschrieben …

Die erste Seite des ersten Briefs von Rod, datiert auf den 12. September 2012
Und dann setzte ich mich daran, unsere Erinnerungen, gefiltert durch die Sicht von Erwachsenen zu vergleichen.
Die Calcotts
Jack, Kath und ihr kleiner Sohn Roddy haben mich Ende Juli 1939 in ihrem Zuhause in Coventry willkommen geheißen.
Als letzten Ausweg, um das Leben ihres einzigen, 7-jährigen Kindes zu retten, hatten mich meine Eltern, Amalie und Markus Zack, mit dem Kindertransport ins Unbekannte geschickt.
Wegen dieses hastig ersonnenen Plans zur Rettung jüdischer Kinder aus dem sich zusammen ziehenden Netz der Verfolgung kam ein verwöhntes, deutsches, jüdisches Einzelkind in eine durch und durch englische, nichtjüdische Familie. Von Mitleid bewegt umarmten sie ein verwirrtes, desorientiertes Mädchen.
Aber dann … klappte es nicht und ich wurde zu den Dodds umgezogen, um bei einem strengeren, älteren Paar zu leben.
Über viele Jahre war mein Lieblingsweg, mit den Schichten des Verlusts umzugehen, die Vermeidung, was zum Verblassen von Erinnerungen beigetragen hat.
2008 veränderte sich etwas in mir, und ich habe angefangen, langsam tief in der Vergangenheit zu graben, indem ich Informationen für eine Autobiografie sammelte, A Garland for Ashes (deutsche Ausgabe: Meine Krone in der Asche).
Zum ersten Mal fragte ich:
Wer bin ich?
Was passierte tatsächlich?
Wie waren die Umstände um mich herum, als ich in einem England lebte, das dem Krieg entgegen sah?
Wie kann ich das Leben mit den Calcotts und den Dodds verstehen?

Kath and Jack Calcott, Sussex Straße 47, Coventry

Roddy erinnert sich an seine Mutter
Langsam lese ich Roddys Briefe und lese sie nochmals. Er beschreibt die Freude seiner Mutter, als sie Locken in meine Haare machte. Ist das wirklich passiert?
An so etwas erinnere ich mich nicht, ich schaue auf das unscharfe Foto von uns beiden im Garten.

Roddy und ich in einem englischen Garten
Ich sehe den Beweis, die Wellen in meinen widerspenstigen Haaren.
Warum versuchte Kath Calcott, mich Teil ihrer Familie zu machen, indem sie meine glatten, geraden Haare lockte?
Warum waren Locken in den 1930ern so wünschenswert für kleine Mädchen?
Plötzlich bin ich zurück in Coventry, wir 4 sitzen zusammen in samtigen Kinosesseln, das Licht ist gedämpft, und ich werde in eine andere Welt versetzt.
Ich sehe echte Menschen, hübsch, größer als im wirklichen Leben, sprechen, singen, lächeln, lachen; ich höre die Musik, registriere die Emotionen, ohne ein Wort zu verstehen.
All die Schattierungen in Schwarz-Weiß; da ist sie, der Star, Shirley Temple, singend, tanzend mit hüpfenden Locken.
Eine Influencerin ihrer Zeit, die Locken zum Maßstab für Schönheit und Niedlichkeit machte …
Warum war ich so hingerissen von dieser ersten Kino-Erfahrung in Coventry?
Meine Gedanken kehren zurück nach Gemünd, und ich spüre wieder das Trauma und die Enttäuschung.
Voller Vorfreude gingen meine Teenager Freundin Ruth und ich auf das örtliche Kino zu, um den ersten Animationsfilm in voller Länge von Schneewittchen und die sieben Zwerge anzuschauen, aber am Eingang wurden wir weggeschickt, … weil wir jüdisch waren.
Erinnerungen entwirren, wieder den vernichtenden sozialen Druck ertragen, die geänderte, nicht selber ausgesuchte Frisur eines Kindes ansehen, ein Symbol des Verlusts …dann erinnere ich mich.
Aber selbst die Haare eures Hauptes sind alle gezählt. Fürchtet euch nicht …
Lukas 12,7